Um 1900 machte sich in
Deutschland eine neue gesellschaftliche Bewegung
bemerkbar, die sogenannte Lebensreform. Mit ihr sollten die Missstände,
die im Gefolge von Urbanisierung und Industrialisierung
aufgetreten waren, auf breiter Ebene bekämpft werden.
Man rief zu einer Erneuerung der Lebensführung auf,
besonders hinsichtlich Ernährung, Kleidung, des Wohnens
und der Gesundheitspflege. Ziel war der ganzheitliche,
mit Natur und Gesellschaft harmonisch lebende Mensch. Schultze-Naumburg schloss sich wie viele Künstler seiner Zeit diesen Ideen an. Ähnlich wie Peter Behrens, August Endell, Bernhard Pankok, Bruno Paul, Richard Riemerschmid und Henry van de Velde verließ er das Gebiet der reinen Malerei, um sich der umfassenden Neugestaltung des modernen Lebens zu widmen. Innenarchitektur, Wohnen, Stadtplanung, Dorf- und Landschaftsgestaltung, ebenso der Mensch selbst, waren Themen, mit denen sich Schultze-Naumburg fortan beschäftigte. Es überschnitten sich bei ihm von Anfang an ästhetische Vorstellungen mit hygienischen und medizinischen. Für ihn bedeutete schönes und harmonisch mit der Umwelt gestaltetes Wohnen auch immer gesundes Wohnen und zwar für möglichst schöne und harmonische Menschen. |
Das gleiche
Anliegen bestimmte auch Schultze-Naumburgs Vorstellungen
zu Mode und Kleidung. Mit seinem im Jahre1901 erschienenen Buch Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung trug er entscheidend zur Reformierung derselben bei. Es war ein radikaler Angriff auf die damalige Frauenmode und verlangte kategorisch insbesondere die Abschaffung des Korsetts. Als gründlicher Kenner der Anatomie forderte Schultze-Naumburg eine Bekleidung, die sich der Form des weiblichen Körpers anpasst eine Forderung, die auf erbitterten Widerstand stieß und selbst vielen Reformern zu weit ging, die sich mit einem sogenannten Reformkorsett begnügen wollten. |
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Beispiel für eine Frauenkleidung, die die Deformationen des weiblichen Oberkörpers, wie sie das Korsett hervorruft, vermeidet |
Die Mode um 1900 |
Promenadenkostüm 1896 | Sommerkostüm 1899 | Pariser Mode 1900 |
Kleider von Paul Schultze-Naumburg |
Abendkleid | Blusenkleid | Gesellschaftskleid | Hauskleid | Teekleid |
Verglichen
mit den raffinierten Schneiderkünsten jener Jahre, in
die sich die Salon-Engel der Belle Epoque hüllten, wirken
Schultze-Naumburgs Reformkleider allzu sehr wie
Reformkost. Man muss jedoch den von ihm geschaffenen antikisierenden Gewandungen zugute halten, dass sie nicht als direktes Vorbild für einen Kleiderschnitt gedacht waren, sondern Improvisationen darstellten, die gleichsam die Topographie des Kleides festhalten sollten. Mit seiner Kritik an der damaligen Frauenmode wurde Schultze-Naumburg zum Vorläufer einer Bewegung, die viel schneller zum Erfolg gelangte, als erwartet. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschwand das Korsett aus der Geschichte. |
Fußdeformierung durch Tragen von
falsch gestaltetem Schuhwerk Die Abbildung ganz rechts zeigt die anatomisch richtige Kontur |
Derartige Wünsche nach einer umfassenden Reform aller Lebensbereiche schlossen jedoch auch deutschnationale und völkische Intentionen ein. Der Schritt von der Human- zur »Rassenhygiene« war bei einigen Lebensreformern nicht weit. So kam es bei Manchen zur problematischen Beziehung von Lebensreform und Sozialbiologie eine Kombination, die für Schultze-Naumburg nach 1918 von besonderer Bedeutung werden sollte. |
174
Seiten, davon 61 in Farbe 243 Bilder Herstellung
und Verlag: ISBN 9783756202447 Ladenpreis: 17 Euro |